Interview mit Dr. Martin Zinkler

Unser Vorstandsmitglied Monika Sigler führte ein Interview mit Dr. med. Martin Zinkler – ehemals  Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heidenheim, welches wir Ihnen hier präsentieren möchten

 Zur Person:
Geb. in Augsburg, studiert in Regensburg und München, dann Stationen in München, Kaufbeuren, London (1999-2009) und Heidenheim; verheiratet, ein Sohn.

Wie kam’s zu Heidenheim?:
Ich wollte nach 10 Jahren in England wieder in Deutschland arbeiten und war auf der Suche nach einer Tätigkeit, die gute Bedingungen für gute Psychiatrie bietet (Abteilung am Allgemeinkrankenhaus mit sozialpsychiatrischer Ausrichtung) und die Chance, ein Modellvorhaben mit Hometreatment zu realisieren. Das hat sich dann mit Abschluss des Vertrags zu einem Modellvorhaben nach 64b SGB V im Jahr 2016 realisiert. Damit ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen. Plötzlich war die Tätigkeit als Chefarzt von dem Druck gelöst, möglichst viele Patient*innen stationär im Krankenhaus zu behandeln, damit die Geschäftsführung und der Träger zufrieden mit dem Betriebsergebnis sind. Im Modellvorhaben ist ein Jahresbudget (Regionalbudget) vereinbart, mit dem die Klinik die Versorgung sicherstellen muss. Ob dann stationär, tagesklinisch, ambulant oder im Hometreatment behandelt wird, liegt nicht mehr am Geld, sondern wird mit jedem Patienten, mit jeder Patientin individuell vereinbart.

Wohin gehen Sie nun und warum gehen Sie?:
Ich beginne am 1.6. am Klinikum Bremen-Ost, das gehört zur Gesundheit Nord, einem großen Klinikverbund, der u.a. für die stationäre psychiatrische Versorgung in ganz Bremen zuständig ist. Wir arbeiten dort mit vielen gemeindepsychiatrischen Trägern (erinnert sich noch jemand an die blaue Karawane?), wir etablieren Hometreatment, wir werden die Behandlung vom Krankenhaus in die Gemeinde bringen, d.h. weniger stationär, mehr ambulant, mehr aufsuchende Arbeit. Wir wollen Krisenzentren in den Stadtteilen etablieren, um die Wege für die Patienten zu verkürzen und ein Behandlungsangebot schaffen, das Vertrauen schafft und den Wünschen und Präferenzen unserer Patienten entspricht. Die Klinik soll die Krisenzentren in den Stadtteilen bei der Arbeit unterstützen. Unser Vorbild dort sind die psychiatrischen Dienste in Triest, Italien.

Schwerpunkte Ihrer Arbeit, Ihre Ziele im Allgemeinen:
Ich kann in der Psychiatrie nur arbeiten, wenn ich auch die Möglichkeit sehe, die Psychiatrie zu verändern. Menschen mit sogenannten psychiatrischen Diagnosen werden immer noch in der Ausübung ihrer Grundrechte behindert, sie werden als gefährlich oder unzurechnungsfähig stigmatisiert oder bevormundet.

In HDH von – bis: Juni 2009 – Mai 2021

Erreichtes:
Hometreatment, weniger stationäre Behandlungen, weniger Zwang, weniger Gewalt, offene Stationen, motivierte Mitarbeitende, Begeisterung für ambulante Angebote, zum Beispiel für unser ambulantes DBT Programm.

Unerreichtes:
Gewaltfreie Psychiatrie, Gleichberechtigung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen, Abbau von Vorurteilen gegenüber von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen in der Bevölkerung und im Hilfssystem

Ihre Wünsche/Ansprüche an/für die Weiterentwicklung der psychosozialen und psychiatrischen Versorgungssituation im Ländle und im Land (Bund):
Eine Psychiatrie, die ausschließlich unterstützt und keinen Zwang mehr anwendet; siehe hier: https://psychiatrie-verlag.de/product/zinkler-m-von-peter-s-ohne-zwang-ein-konzept-fuer-eine-ausschliesslich-unterstuetzende-psychiatrie-einzelartikel-aus-rp-4-2019/

Ihre Vision einer sinnvollen, hilfreichen Psychiatrie:
Siehe obiger Link

Zum Trialog:
Sollte Alltag der Psychiatrie werden, dh Trialog auf allen Ebenen: bei der Behandlung wie im „offenen Dialog“, bei der Psychiatrie-Planung, in den Gremien und in den Aufsichtsräten von Trägern und Kliniken.

Zur Rolle der Peer’s in der Psychiatrie, Möglichkeiten + Grenzen:
Beteiligung auf allen Ebenen: Unterstützung, Behandlung, Planung, Forschung, Management, Psychiatrie-Politik

Wo sehen Sie Probleme, Herausforderungen und Widerstände im Vorankommen der nötigen Weiterentwicklung im Sinne des Klientels:
Es ist eine Frage der Gleichberechtigung. Hilfreich wäre es, wenn sich das menschenrechtliche Modell von Behinderung allmählich durchsetzt. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat einen Prozess angestossen, der zu einer Machtverschiebung führt. Das System Psychiatrie allerdings tut sich schwer, diese Machtverschiebung zuzulassen. Beispielsweise wird im Auftrag von Gerichten immer noch die Frage der Einwilligungsfähigkeit von Psychiatern beurteilt, um dann fremdbestimmte Entscheidungen über die betreffenden Personen zu treffen. Die Konvention hingegen sieht unterstützende Entscheidungsfindung vor.

Was nehmen Sie mit aus BW?:
Erinnerungen an wunderbare Begegnungen im Hometreatment, mit Mitarbeitenden, Patient*innen und Angehörigen. Blasmusik, die Manufaktur in Schorndorf, die Heiderose in Steinheim, die schönen Biergärten im nahen Bayern (Lauingen), die Küche im Wacholder in Schnaitheim, Erfahrungen in der Kommunalpolitik (Gemeinderat Heidenheim).

Was wünschen Sie uns, allen, am Prozess der Weiterentwicklung Beteiligten für die Zukunft in BW?:
Mehr Mut, eindeutige Forderungen an die Landesregierung, die Krankenkassen und die Kliniken zu richten. Das PsychKHG wäre mal wieder überarbeitungsbedürftig, zB könnten alle Kliniken dazu verpflichtet werden, ihre Daten über Zwangsmaßnahmen nicht nur zu erheben und ans Land zu melden, sondern im Rahmen des Qualitätsmanagements regelmäßig zu veröffentlichen. Das würde Transparenz schaffen und einen Ansporn, die Anwendung von Zwang zu reduzieren. Die derzeitigen Regelungen haben das nicht erreicht. Hier kann Stuttgart im Gesetz nachbessern, ohne dass es einen Cent kostet! ( Profis, Betroffene, Angehörige )

Ihre Publikationen siehe hier:
https://www.researchgate.net/profile/Martin-Zinkler

Welche Frage hätten Sie sich noch gewünscht?:
Was passiert eigentlich in der Psychiatrie durch die Corona-Pandemie? Allerdings habe ich noch keine Antwort darauf. Jedenfalls gibt es Hinweise darauf, dass in den Kliniken mehr Zwang angewendet wird als vorher, zB in Berlin. Das sollte vom Landesarbeitskreis Psychiatrie aufmerksam beobachtet werden, zB durch quartalsweise Meldungen über Zwangsmaßnahmen (statt jährlich). Dann könnte die Besuchskommission gezielt aktiv werden.

Herzlichen Dank für das Interview und Ihre Arbeit für die Anliegen Psychiatrieerfahrener! Wir wünschen Ihnen einen guten und erfolgreichen Start in Bremen.