Für viele Betroffenen stellt sich immer noch die Frage, was wir eigentlich sind. Psychisch Krank, psychisch-behindert, beeinträchtigt, seelisch-erschüttert?
Wir veröffentlichen hier zu diesem Thema einen Mailaustausch unserer Expertengruppe, welcher interessante Aspekte dazu aufzeigt.
Sie können dieses Dokument auch als pdf downloaden: Mailaustausch zum Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
Mailaustausch zum Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
Quelle: Engagiertenverteiler des LVPEBW im Mai 2021
Es schreiben: Klaus Gauger, Claudia Hannich, Rainer Höflacher, Carina Kebbel, Christian Marquardt, Mirko Olostiak-Brahms
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Für mich persönlich ist der Krankheitsbegriff etwas sehr Nützliches. Er ermöglicht mir Behandlung und Unterstützung. Ich sehe ein, dass er auch stigmatisieren kann und man könnte ja auch allgemein vielleicht besser von einer seelischen Belastung sprechen. Die Sorge die ich selbst habe ist aber, dass selbst wenn wir die Begrifflichkeiten ändern sich die Stigmatisierungen übertragen. Also sollten wir mehr gegen die Stigmatisierung als gegen die Begrifflichkeit kämpfen. Für mich als naturwissenschaftlich denkender Mensch ist der Krankheitsbegriff etwas plastisch greifbares, der mich von einem Problem abgrenzt. Deshalb finde ich ihn persönlich gar nicht so schlimm, ist aber nur meine Meinung und ich habe ja auch nicht so viel Erfahrung wie Du.
Ich finde es ist aber trotzdem mal eine eigene Diskussion wert, wenn wir die Zeit dazu finden… 🙂
Liebe Grüße
Christian
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Hallo zusammen,
ich danke Euch für das Interesse und die Wertschätzung.
Da ich mit meinen kurzen Bemerkungen unbeabsichtigt eine Diskussion über Begrifflichkeiten angestoßen habe, möchte ich meine Sicht der Dinge bzw. meine Überlegungen hier mal in Worte fassen. Aufgrund meiner Geschichte habe ich schon sehr lange mit Psychiatrie zu tun, und mich beschäftigen die verschiedenen Ansätze, die Phänomene, die wir als „psychische Erkrankungen“ bezeichnen, zu erklären und mit ihnen umzugehen. Ich habe mich mit vielen Menschen ausgetauscht – Psychiatrie- und Krisen-Erfahrene, Angehörige, Psychiater, Psychologen und auch andere Professionelle. Es gibt viele Menschen, die eine komplett andere Sicht auf die Dinge haben als ich, vielfach erfahre ich aber auch Zustimmung. Schwierig ist es vor allem dort, wo jemand keine andere Sichtweise zulassen kann – aus welchen Gründen auch immer. Ich kenne einige Menschen, die von sich sagen, dass Psychiatrie ihnen geholfen hat, und ich möchte niemandem verbieten, sich selbst als „psychisch krank“ zu sehen.
Seit meiner Jugend habe ich persönlich mit seelischen Krisen zu tun – als Angehöriger seit meiner frühen Kindheit. Ich habe Psychotherapie kennengelernt, war in meiner Jugend auch mal in einer psychosomatischen Klinik, hatte später insgesamt drei Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, wurde zwischendurch auch schon ambulant mit Psychopharmaka behandelt. Seit über 30 Jahren lebe ich ohne Behandlung. Ich musste einen Weg finden, in dieser Welt mit meinen eigenen Schwierigkeiten, mit meinem eigenen Leben klarzukommen.
Für mich hatte sich schon die psychiatrische (Zwangs-)Behandlung, die ich mit 16 in der geschlossenen Jugendpsychiatrie erlebt habe, nicht richtig angefühlt. Die Krise, aufgrund derer ich in die Psychiatrie gebracht wurde, war nicht von ungefähr gekommen. Sie hatte die Wurzeln in meiner Kindheit, und sie war ausgelöst worden durch eine Vielzahl widriger Umstände und Verstrickungen, auf die ich an diesem Punkt nicht weiter eingehen will. Der Begriff „endogene Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ war für mich nicht aussagekräftiger, als es der Begriff „psychischer Ausnahmezustand“ gewesen wäre.
Ich habe mich damals, vor bald 40 Jahren, der Behandlung entzogen, und ich sehe es als Glück an, dass ich auch in meinen darauffolgenden Krisen nie dauerhaft mit Neuroleptika behandelt wurde. Das größte Glück war allerdings, dass ich die Möglichkeit hatte, zwei heftige Psychosen unbehandelt durchzustehen – was mir nicht gelungen wäre, wenn ich das landläufige psychiatrische Modell für mich angenommen hätte.
Es würde wohl zu viel Raum einnehmen, wenn ich meine Geschichte hier ausführlich erzählen würde.
Ich habe sie 2018 für den Recovery-Kongress in Bern in Worte gefasst und dort vorgetragen. Wer will kann sich das anhören unter https://vielfalter.podspot.de/files/ueber-den-zaun.mp3 (21,5 MB | MP3)
Auf dem Kongress „Die subjektive Seite der Schizophrenie“ habe ich ebenfalls über meine Geschichte gesprochen. Zu hören unter:
https://vielfalter.podspot.de/files/Stralsund20170217.mp3
Zusammenfassend kann ich sagen, dass es für mich sehr hilfreich war, keine Krankheitseinsicht zu entwickeln. Ich bin froh, dass ich für mich nicht das Modell übernommen habe der „Stoffwechselstörung im Hirn“, welche – um „Rückfälle“ zu vermeiden – dauerhaft mit Medikamenten zu behandeln ist.
Mein Vater hatte Ende der sechziger Jahre eine „Schizophrenie“ diagnostiziert bekommen. Als Mensch mit dieser Diagnose konnte ihm verboten werden, seine Kinder zu sehen. Er verschwand aus meinem Leben, als ich vielleicht fünf war. Ich habe ihn gut 13 Jahre später – nach meinem ersten Aufenthalt in der Psychiatrie – wiedergetroffen. Er hatte für sich akzeptiert „psychisch krank“ zu sein. Irgendwann hat er mir mitgeteilt, er habe die ganzen Jahre die falsche Diagnose gehabt. Er sei gar nicht „schizophren“ sondern „manisch-depressiv“.
Es kommt ziemlich oft vor, dass Menschen von unterschiedlichen Psychiatern bzw. in unterschiedlichen Kliniken auch ganz verschiedene Diagnosen bekommen. Viel öfter noch geschieht es, dass Diagnosen, die bereits aktenkundig geworden sind, immer weiter übernommen werden.
Eine psychiatrische Diagnose beschreibt nicht mich, sondern das Bild, welches der Psychiater sich von mir gemacht hat. „Psychiatrische Diagnosen sind nicht valide“ wird Thomas Insel, der ehemalige Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH) in den USA, gerne zitiert. Man könne genauso gut auch würfeln…
Im Bereich Psychiatrie lesen wir viel von Vermutungen und Annahmen. Dort, wo Psychiater ehrlich sind, geben sie zu, dass sie wenig wirklich wissen über die Ursachen von „psychischen Erkrankungen“. Seit sich in den 50er Jahren die Behandlung mit Psychopharmaka durchgesetzt hat, spielen auch massive finanzielle Interessen eine Rolle. Es heißt zwar „psychische Erkrankungen“ seien gut behandelbar, andererseits wird den „Menschen mit psychischen Erkrankungen“ zwar angeraten, mit ihrer „Erkrankung“ leben zu lernen, kaum jemand geht jedoch davon aus, dass sie ihre „Erkrankung“ hinter sich lassen und genesen könnten.
Die Möglichkeit, auch von sog. „schweren psychischen Erkrankungen“ zu genesen, ist weniger selten, als gemeinhin angenommen wird. Der Genesungsweg kann einem dabei nicht abgenommen werden. Unterstützung ist jedoch möglich. Ich muss jedoch lernen, Verantwortung zu übernehmen für mich, mein Denken, mein Handeln. Eine Diagnose kann vielleicht zur Erklärung von seelischen Zuständen genutzt werden, kann aber also auch als Entschuldigung dienen, oder auch (Hinter-)Gründe verschleiern, wenn ich denke, mein Verhalten oder Erleben ist so, wie es ist, da ich die „Krankheit“ xy habe…
Was lerne ich über mich, wenn ich eine Diagnose bekomme, und mich über die „Erkrankung“ informiere, die damit bezeichnet wird? Vielleichthilft es ja eher, einen Weg zu finden, mit mir und der Welt klarzukommen, und Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, wenn ich eigene Worte finde für die Phänomene, mit denen ich zu tun habe?
Ich verlange von niemandem, irgendwelche Begriffe aus seinem oder ihrem Wortschatz zu streichen. Wenn es jemand für angemessen oder zutreffend erachtet, sich als „psychisch krank“ bezeichnen oder bezeichnen zu lassen, soll sie oder er das gerne tun. Ich habe nicht vor, das irgendjemandem zu verbieten. Es geht mir keinesfalls darum, als „Sprachpolizei“ aufzutreten. Wenn ich die Begriffe hinterfrage, dann nicht, um Sprachregelungen aufzustellen, sondern vor allem, um den Blick zu öffnen für andere Möglichkeiten die Dinge zu deuten.
Ich verlange auch von niemandem, den Weg zu gehen, den ich gegangen bin.
Damit es jedoch Wahlfreiheit geben kann, ist es in meinen Augen notwendig, (psychiatrische) Dogmen zu hinterfragen und auch jene Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich auftun, wenn wir auch andere Modelle in Betracht ziehen.
Der Offene Dialog oder Soteria sind ja gerade deshalb so erfolgreich, weil Diagnose und „Behandlung“ der diagnostizierten „Störung“ in der Praxis erstmal keine Rolle spielt. Wichtig ist hier nicht die Sicht des Behandlers, der dem Patienten dann zeigt, wo es lang geht und was zu tun ist, sondern hier geht es darum -möglichst mit allen Beteiligten – Wege zu finden aus der Krise. (Das war jetzt sehr vereinfacht, und die weibliche Form denken wir uns bitte mit)
Erich Fried schreibt in einem Gedicht:
Die Gewalt fängt nicht an, wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
„Du bist krank:
Du musst tun, was ich sage!“ (https://www.deutschelyrik.de/die-gewalt.html
Siehe auch: https://www.lwl.org/psychiatrieverbund-download/pdf/Vortrag_Schnee.pdf)
Ihr seht, für mich ist das ein großes Thema, und ich diskutiere gerne mit Euch weiter darüber. Gerne auch über die Liste „Austausch zu Psychiatrie und Alternativen“ <psychiatrie-erfahrungen@listi.jpberlin.de>
Freue mich auf Eure Gedanken dazu.
Liebe Grüße,
Mirko
P.S.:
Erst am 17. Mai 1991 wurde Homosexualität von der WHO aus der Liste der (psychischen) „Erkrankungen“ gestrichen.
Was als „krank“ oder „gesund“ angesehen wird, scheint eine Frage der Definition…
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Hallo zusammen,
danke für die klugen und konstruktiven Worte hier!
Obwohl es stimmt, dass das Streiten über Begriffe Energie für andere Themen nimmt, ist es für mich trotzdem wichtig über den Krankheitsbegriff der Psychiatrie nachzudenken, egal ob man sich jetzt psychisch krank nennen will oder nicht. Es führt ganz neutral betrachtet zu Problemen, wenn ohne wirklich objektive Kriterien jemand als krank bezeichnet werden kann. Wo dies zudem auch die Eintrittskarte dafür ist, Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlung erleiden zu müssen.
Es leuchtet mir auch ein, dass psychische Erkrankungen grundsätzlich biopsychosozial beeinflusst sind. Ich finde es wichtig, die vordringlichen Faktoren zu finden, um gegen die psychische Problematik vorzugehen. Wenn durch Studien nachweisbar ist, dass z.B. der Faktor Arbeit bei bestimmten Berufen zu bestimmten psychischen Erkrankungen führt, ist es finde ich legitim, dass diese als Berufskrankheiten definiert werden.
Was machen wir nun mit diesem Thema? Belassen wir es bei dieser Diskussion oder überlegen wir uns, wie wir aktiv werden können? Oder bin ich wieder mal zu ungeduldig?
Inzwischen haben wir hier ja zwei Diskussionsstränge, wobei der Strang „Begrifflichkeit psychische Erkrankung“, sich zum Thema Stigmatisierung erweitert hat.
Das Thema Stigmatisierung ist für mich derzeit besonders wichtig, da ich dafür Argumente sammeln möchte bzw. muss, da der Hauptvortrag des Landespsychiatrietag das Thema „Das Stigma psychischer Erkrankungen“ hat. Vermutlich dazu werde ich auf der Bühne etwas sagen dürfen. Wäre toll, wenn mein Statement von anderen seelisch erschütterten Menschen mit erarbeitet wäre.
Von einigen hier, wurde ja schon was gesagt dazu. Vielleicht ist es aber auch zu schwierig in einer Konversation zwei bzw. drei Themen zu diskutieren, obwohl ja alle auch über das Thema Stigma verbunden sind.
Selbst ich, der sehr unabhängig von der Meinung von anderen Menschen leben kann, weil ich relativ wenige Abhängigkeiten habe außer vom Staat, merke wie mir immer wieder das Thema Stigma am eigenen Leib begegnet. Ich gehe sehr offen mit meiner Diagnose um, aber trotzdem habe ich gelegentlich ein ungutes Gefühl dabei und überlege, was der oder die andere jetzt wohl über mich denkt. Allerdings ist das abgeschwächt auch bei anderen Erkrankungen so, denn wer gibt in einer Leistungsgesellschaft schon gerne zu, dass er oder sie krank ist. Leider ist das wohl bei vielen so.
Herzliche Grüße
Rainer
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Hallo zusammen,
Ich habe die Ausführungen von Mirko mit Interesse zur Kenntnis genommen. Ohne jetzt im Einzelnen auf diese Ausführungen eingehen zu wollen, muss ich doch feststellen, dass ich mich an einer Diskussion um die Fragen, ob es psychische Krankheiten gibt und ob man sie im Einzelnen diagnostizieren und unter anderem auch medikamentös behandeln sollte, nicht beteiligen möchte. Mirkos Standpunkte sind einfach zu weit von meinen eigenen entfernt. Ich arbeite als Genesungshelfer in einer psychiatrischen Klinik und tue das auch, weil ich glaube, dass die Psychiater mit ihren Diagnosen und Medikamenten nicht nur mir, sondern auch anderen Patienten helfen können. LG, Klaus
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Hallo zusammen,
vielen Dank für den Austausch.
Ich persönlich habe stets positive Erfahrungen mit dem psychiatrischen System gemacht und es tut mir leid, wenn es bei anderen nicht so ist. Bei Recovery gibt es diese sieben Punkte und einer davon lautet „Recovery ist möglich mit, ohne und trotz professioneller Hilfe“. Im Endeffekt gibt es dabei ja kein besser oder schlechter. Mirko beschreitet den Weg einfach anders als ich. Trotzdem denke ich, dass Psychiater nicht würfeln. Menschen, die ein Studium hinter sich haben und dann noch 3-5 Jahre Facharztausbildung machen haben sicherlich bessere Methoden als zu würfeln.
Irgendwie habe ich so ein Bauchgefühl, dass es hier nur um entweder oder geht. Wieso denn das alles. Warum kann Psychiatrie nicht existieren neben offenem Dialog und Soteria. Wenn die Ressourcen für alles da sind, sollte man die Ideen die wir haben auch umsetzen. Ich persönlich hatte noch kein Netzwerkgespräch im offenen Dialog, aber ich wehre mich ja auch nicht mit Händen und Füßen dagegen. Schwieriger wird es wohl bei der Finanzierung. Die Psychiatrie ist eine Institution in unserer Gesellschaft, die versucht Menschen mit psychischen Belastungen zu helfen. Dazu hat sie ein biologisches Modell ausgewählt. Offenbar war das Modell erfolgreich, sonst gäbe es sie heute nicht mehr. Ich will nicht sagen, dass die Psychiatrie (auch als Institution) immer alles richtig macht, dazu gibt es zu viele komplexe Faktoren die die individuelle Behandlung beeinflussen. Genauso falsch ist es aber meiner Meinung nach der Psychiatrie vorzuwerfen, dass sie immer alles falsch mache. Solche Pauschalisierungen bringen niemanden weiter.
Was man meines Erachtens bedenken sollte, ist, dass Psychiatrie ein relativ junges Gebiet ist. Die ersten wirksamen Stoffe entstanden um die 60er 70er Jahre. Wir verstehen viel noch nicht was in unserem Kopf vorgeht, vor allem im psychiatrischen Bereich. Dennoch bin ich froh, dass es heutzutage Medikamente gibt, denn sie helfen vielen Menschen und auch mir. Natürlich gibt es viele Kritikpunkte an Psychopharmaka, aber ich kann für meinen Teil sagen, es ist für mich besser sie zu nehmen.
Jeder Recoveryweg ist anders, denn er ist immer individuell.
Auch ich hatte mal ein Medikament, das mich 16 Stunden und mehr am Tag schlafen ließ. Es wurde nach einem Jahr wieder abgesetzt. Aber ich betrachte den Vorfall eher sportlich, denn schließlich sind auch Psychiater nur Menschen, die ihr bestes versuchen uns zu helfen. Und irren ist menschlich. D.h. solange Menschen Menschen behandeln, was wirklich gut ist, werden Fehler passieren. Ich habe meinen Frieden mit dieser Situation geschlossen, indem ich das einfach akzeptiere.
Es freut mich, dass Mirko seinen Weg gefunden hat, aber ich werde meinen auch irgendwann finden. So unterschiedlich wir Menschen sind, so unterschiedlich sind auch unsere Erfahrungen.
Liebe Grüße
Christian
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Lieber Klaus, Liebe Mitlesende,
ich respektiere Deine Entscheidung, Dich nicht an der Diskussion beteiligen zu wollen, auch wenn ich es schade finde. Gerade wenn die verschiedenen Standpunkte weit voneinander entfernt sind, kann es wertvoll sein, wenn die verschiedenen Sichtweisen auch ausformuliert werden.
Die Diskussion, wie hilfreich das Konzept „psychische Krankheiten“ ist, ist ja auch in der Fachwelt noch längst nicht beendet. An der Veranstaltung mit Dr. Dr. Heinz über Kontroversen um den Begriff „psychische Krankheit“ konnte ich leider nicht teilnehmen. Die Aufzeichnung ist jedoch abrufbar unter
https://uni-freiburg.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Viewer.aspx?id=6c72b2b7-f5a0-479a-a575-ad1f00f7c123 und ich werde sie mir anschauen, sobald ich Zeit dafür finde.
Es gibt viele Menschen, denen Psychiatrie geholfen hat bzw. hilft. Es gibt jedoch auch diejenigen, denen die Behandlung nicht geholfen oder gar geschadet hat. Mit einem schwarz/weiß-Denken („für“ oder „gegen“ Psychiatrie) kommen wir wahrscheinlich nicht weiter. Mit einem blinden Vertrauen (der Arzt wird schon wissen, was ich habe und was für mich gut ist) wahrscheinlich auch nicht.
In der Psychiatrie sehen wir vergleichsweise wenige gesicherte Erkenntnisse. Es gibt Annahmen, Vermutungen, Überzeugungen und Modelle über die Ursache und Entstehung von „psychischen Erkrankungen“. Es wird von Krankheitsbildern gesprochen, auf die man sich geeinigt hat, es gibt Richtlinien dafür, wie damit umgegangen werden soll. Erst kürzlich wurden die S3-Leitlinien zu Behandlung von „Schizophrenie“ komplett neu formuliert.
Es gibt eine Menge Psychiater, die die gängigen Konzepte in Frage stellen. Der niederländische Psychiater Jim van Os fordert „Weg mit dem Etikett Schizophrenie“ und führt aus „Der Begriff Schizophrenie ist verwirrend und medizinisch unbrauchbar.“
https://www.spektrum.de/news/schizophrenie-gibt-es-nicht/1682902
Nochmal: Ich bestreite nicht, dass es viele Menschen gibt, die dankbar sind für die Hilfe, die sie in der Psychiatrie erfahren haben. Bei einem Drittel der Patient*innen verbessert die (dauerhafte) Einnahme von Psychopharmaka durchaus die Lebensqualität. Ein weiteres Drittel käme auch ohne Psychopharmaka gut klar. Ungefähr ein Drittel der Patient*innen hat auf Dauer gesehen jedoch wenig nutzen und teils mit massiven Schäden zu kämpfen. Leider weiß der Psychiater vor Beginn der Behandlung nicht, zu welcher dieser drei Gruppen der Mensch vor ihnen gehört.
„Abwarten schadet nicht“ war wohl die wichtigste Erkenntnis, die ich aus dem Gespräch ziehen konnte, welches ich im März 2008 mit dem Psychiater Dr. Volkmar Aderhold geführt habe: https://vielfalter.podspot.de/files/aderhold-16-03-08.mp3. Dr. Aderhold hatte sich in deutschen Psychiater-Kreisen (speziell bei der DGPPN) unbeliebt gemacht, weil er auf die Mortalität durch Neuroleptika hingewiesen hat. Er hat auf Studien hingewiesen und sie öffentlich diskutiert, die gezeigt haben, dass die dauerhafte Einnahme von Neuroleptika zu einer Verkürzung der Lebenserwartung um 20 bis 30 Jahre führt.
Die Konsequenz solcher Erkenntnisse ist ein behutsamerer und durchdachter Umgang mit solchen Mitteln:
https://fokus-fortbildung.de/wp-content/uploads/2018/06/Aderhold-Neuroleptika-minimal-5.5.HB_.pdf
sowie die Etablierung von Methoden, die uns helfen, die Vergabe solcher Medikamente zu minimieren:
http://vielfalter.podspot.de/files/Transkript-VielFalter-Interview-Aderhold.pdf bzw. https://vielfalter.podspot.de/files/julisendung016.mp3
Für heute muss ich Schluss machen – auch wenn es noch sehr viel zu den Themen zu sagen gäbe…
Die Frage, wer den „richtigen Glauben“ hat, werden wir in einer Maildiskussion nicht klären können.
„Die Existenz einer Krankheit namens Schizophrenie ist unbewiesen“ können wir z.B. bei Peter Lehmann lesen, der im Zusammenhang mit Psychiatrie auch von einem Glaubenssystem spricht. http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/normalitaet/vom_streit.htm
Ich wünsche Euch einen schönen Abend!
Viele Grüße,
Mirko
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Lieber Christian, lieber Mirko,
leider habe auch ich schlechte Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht. Und die Nebenwirkungen der Medikamente waren bei mir teilweise auch fulminant. Aber von der Psychiatrie als „Glaubenssystem“ zu reden (vergleichbar mit Religionen), obwohl es sich hier um eine akademische und ärztliche Disziplin handelt (die sich natürlich irren kann und sich entsprechend immer weiterentwickelt): Das ist für mich einfach nur Polemik. Auch ich habe nichts gegen Soteria und offenen Dialog. Es ist gut, wenn sich möglicherweise gangbare Alternativen zur Psychiatrie etablieren, gerade für solche Patienten, die keine oder zumindest weniger Medikamente nehmen wollen. Im Übrigen habe ich keinen „Glauben“. Auch ich war mal von der Fraktion der Antipsychiater, BPE-Mitglied, und Peter Lehmanns Werke stehen nach damaliger gründlicher Lektüre immer noch in meiner Bibliothek. Aber ich musste dann eben die Erfahrung machen, dass ich besser bedient bin, wenn ich meine Medikamente nehme. Der letzte große psychotische Schub dauerte bei mir von 2010 bis 2014 und führte mich über praktisch alle europäischen Hauptstädte in die USA, Kanada und schließlich nach Tokio.
Nach vier Jahren Psychose war ich am Ende und bin dann durch eine Xeplion-Spritze von meinem Elend erlöst worden. Dafür bin ich dankbar und seitdem habe ich die Medikamente nicht mehr gelassen. Zwanzig kranke Jahre waren genug. Ich will einfach den Wahn in meinem Leben nicht mehr und die Medikamente helfen mir, ihn außen vor zu halten. Ich habe also keinen Glauben, sondern 27 Jahre Erfahrung mit einer Krankheit, die ich mittlerweile erfolgreich mit Medikamenten und Psychotherapie in Schach halte. Die Lektüre antipsychiatrischer Literatur und die Mitgliedschaft im BPE konnten mich leider nicht von meinem Wahn befreien. Wenn Mirko ohne Medikamente klarkommt, freut mich das. Aber ich brauche sie. Und viele Patienten, die ich im ZfP Emmendingen kennenlerne, brauchen sie auch, entweder zeitweise oder dauerhaft. Das Absetzen oder Nehmen von Medikamenten ist ein freie Entscheidungssache und man sollte eben gerade nicht einen Glaubensstreit daraus machen, sondern jeder Betroffene sollte für sich prüfen, ob er besser mit oder ohne Medikamente fährt. Das gleiche gilt für die Psychiatrie. Auch hier sollte jeder Betroffene prüfen, ob die Hilfe von Psychiatern in Anspruch nehmen will oder eben nicht.
Was nun die vieldiskutierten Zwangsbehandlungen angeht, so habe ich sie in meinem Fall manchmal auch als negativ erlebt. In der Tat, das fühlte sich manchmal falsch an, wie schon Mirko sagte. Allerdings: Wie Dr. Schieting (der Chefarzt des ZfP Emmendingen) mir einmal mit milder Ironie sagte: „Ich hole niemanden mit Gewalt aus seinem Haus und behandle ihn dann gegen seinen Willen in meiner Klinik. In der Regel liefert die Polizei solche Patienten hier ein, weil sie auffällig geworden sind (Fremd- oder Selbstgefährdung). Und dann ist es mein Auftrag, etwas dagegen zu tun, manchmal auch durch eine Zwangsbehandlung“. So ähnlich Dr. Schieting. Und das stimmt auch für meinen Fall: Ich wurde zweimal im Freiburger Raum zwangsbehandelt, weil ich fremdgefährdend geworden und schwer verwirrt war. Die Polizei lieferte mich dann jeweils in der Hauptstraße 5, bzw. im ZfP Emmendingen ab. Wenn Mirko daran etwas ändern will, muss er sich an die Politik wenden und die deutsche Bevölkerung davon überzeugen, dass auch fremd- und sich selbst gefährdende Patienten nicht behandelt werden sollten. Die Psychiater stehen da nur im Auftrag der deutschen Gesetze.
Das ist also ein Fall für legislative Änderungen, falls man überhaupt keine Zwangsbehandlung mehr will, auch nicht von forensischen Fällen. Nur dies noch zum Thema der Zwangsbehandlungen. Ich persönlich war im Nachhinein froh, als ich nach vier Jahren Psychose endlich durch einen engagierten Psychiater und Richter in Spanien ausgebremst wurde und meine Xeplion-Spritze bekam. Aber ich will niemandem das Recht nehmen, sich für die Abschaffung jeglicher Zwangsbehandlung stark zu machen und sich in entsprechenden antipsychiatrischen Lobbyverbänden wie dem BPE daran zu arbeiten. Das ist eine politische Frage. Die Psychiater tun einfach nur das, was die Legislative ihnen vorgibt. Und damit genug.
LG,
Klaus
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Hallo zusammen,
erst einmal möchte auch ich mich für die vielen qualitativ hochwertigen Gedanken in dieser Runde bedanken. Ich bin wirklich beeindruckt von so viel Mut und konstruktiver Reflektion.
Wie viele Aspekte im Bereich der Psychiatrie ist auch die Frage der (richtigen) Medikation einer, welcher mit vielen Emotionen verbunden ist und meines Erachtens sehr differenziert betrachtet werden sollte.
Ich für meinen Teil weiß durch eigene Erfahrungen und durch viele Gespräche, welch ein Segen Medikamente mitunter sein können, wie sehr sie Symptome lindern können, die vielleicht sonst nicht aushaltbar wären. Ich kenne aber auch die Begleitwirkungen, welche durchaus erheblich und zum Teil massiver als das ursprüngliche Leiden sein können. Für mich persönlich werte ich sie daher ähnlich wie zum Beispiel Schmerzmittel. Niemand käme z. B. auf die Idee, dass jemand mit einem akuten Bandscheibenvorfall darauf verzichten sollte bzw. müsste. Dem gleichen Menschen würde man jedoch vermutlich raten, dass diese bei einsetzender Genesung wieder zu reduzieren seien. Insbesondere wenn andere Behandlungen wie etwa in diesem Fall Physiotherapie Linderung bringen können. Hat sich das Leiden jedoch schon manifestiert und chronifiziert, so kann auch eine Dauermedikation notwendig sein.
Auch ich kenne die Einschätzung, dass etwa ein Drittel der Menschen wieder ohne Medikamente, ein Drittel mit phasenweise Medikamenten und ein Drittel mit Dauermedikation behandelt werden könnte. Ich kann leider nicht beurteilen, ob dies so stimmt, habe es aber auch so gelehrt bekommen.
Ganz gleich jedoch, ob diese Einschätzung stimmt oder nicht, sollte jeder Mensch für sich selbst entscheiden können, welchen Weg er oder sie für sich wählt. Niemand sollte für andere bestimmen, was für diese richtig oder falsch ist – außer natürlich im Fall einer akuten und anders nicht abwendbaren Selbst- oder Fremdgefährdung.
Ich kann gut verstehen, dass es Leidenszustände gibt, die so massiv sind, dass man – wenn Medikamente Linderung bringen – gar nicht versuchen möchte, ob und wie es anders gehen könnte. Ich kann aber genauso gut verstehen, dass es Begleitwirkungen gibt, die man nicht aushalten kann und will.
Darüber hinaus sind Medikamente eine sicher wichtige, aber bei Weitem nicht die einzige Interventionsform. Aus diesem Grund halte ich es auch für unabdingbar, dass Menschen in seelischer Notlage eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der für Sie angemessenen Hilfe bekommen und würde mir wünschen, dass wirkliche Alternativen zur Klinikbehandlung flächendeckend verfügbar wären.
Ich finde es wichtig, aus diesem Thema keine „Glaubensdiskussion“ zu machen, sondern offen für die jeweils andere Perspektive zu bleiben. Wenn uns das gelingen könnte, sehe ich in dieser Runde unglaublich viel Potential für bereichernden Austausch. Schöner fände ich dafür jedoch einen direkteren Rahmen wie z. B. als online-Meeting.
Viele Grüße
Carina
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Hallo,
ich finde diesen Austausch sehr konstruktiv und spannend, sehr persönlich, reflektiert und trotzdem sachlich von allen Beteiligten formuliert. Es ist interessant zu lesen, welche unterschiedlichen Wege jeder für sich gegangen ist und welche Erfahrungen er/sie damit gemacht hat. Ein Gegeneinander oder einen Anspruch auf ein „entweder…oder…“ kann ich persönlich nicht erkennen.
Ich habe anhand Eurer Schilderungen zurückgeschaut und überlegt, ob ich in all den Jahren, die ich beruflich und privat mit der Psychiatrie (im weitesten Sinne) zu tun hatte, an irgendeiner Stelle aus diesem „System“ hätte aussteigen wollen. Mein ganz persönliches Fazit: nein. Gekonnt hätte ich sicherlich, aber ich war im Gegenteil sehr froh, endlich Hilfe zu bekommen, die ich schon Jahre vorher dringend gebraucht hätte.
Ich habe zwar keine Psychose und nehme keine Neuroleptika, aber auch ich habe mich zuerst gegen eine medikamentöse Behandlung gesträubt. Im Nachhinein viel zu lange. Nach ewigem Ausprobieren und Ausbalancieren von Wirkungen und Nebenwirkungen kann ich nur sagen, dass ich erst durch die Einnahme überhaupt therapiefähig wurde. Darum bin ich froh um diese „Chemie“ und dankbar dafür, dass Ärzte mich ernst genommen und solange alles versucht haben, bis ich endlich gut eingestellt war und es immer noch bin.
Was die langfristigen Nebenwirkungen angeht, die natürlich gerade bei neueren Medikamenten noch nicht gut vorhersehbar sind, halte ich es so: ich nehme jetzt die Medikamente und habe (auch) dadurch ordentlich an Lebensqualität gewonnen. Vielleicht werde ich mal 80 Jahre oder älter. Die lange Zeit, die es bis dahin noch ist, möchte ich „gut“ leben, also mich nicht über jeden einzelnen Tag quälen. Falls(!) dann irgendwann nicht mehr reversible Nebenwirkungen auftauchen, weiß ich aber, dass die Medikamente mir vorher zu vielen guten Jahren verholfen haben. Was nützt es mir denn, wenn ich vielleicht noch deutlich älter werde, mein Leben aber furchtbar waren?! Dass es mir ohne Pillen deutlich schlechter geht, musste ich mehrfach erfahren, als ich der Meinung war, dass ich hier und da was reduzieren muss. Inzwischen unterlasse ich solche Experimente habe die Medikation für mich akzeptiert. Das stresst mich selbst auch deutlich weniger.
Was das Thema Diagnose angeht, so war ich persönlich froh und dankbar, als ich endlich die richtige bekommen habe. Denn eine Diagnose sorgt ja auch dafür, dass die Behandlung entsprechend angepasst werden kann. Erfahrene Psychiater, Psychologen und Therapeuten kennen jeweils entsprechende Therapien und können so auch vermeiden, dass ich in eine Richtung behandelt werde, die mir sogar schadet anstatt zu nützen. Auch das habe ich selbst erlebt. Meine Konsequenz daraus war dann aber die Suche nach Fachleuten, die sich mit meiner Problematik gut auskennen und nicht das in Frage stellen des Systems (was ich jetzt überhaupt nicht kritisch meine!). Auch in ärztlichen und therapeutischen Berufen gibt es gute und weniger gute Behandler. Manchmal ist das nicht nur eine fachliche Frage, sondern auch auf der zwischenmenschlichen Ebene entscheidend. Beides sollte passen, dann ist auch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich.
Ich möchte das Wissen und die Erfahrungen meines Psychiaters und meiner langjährigen Therapeutin nicht missen. Letztere sagte mal zu mir, dass ich quasi Glück hatte mit dem Zeitpunkt meines akuten Zusammenbruchs. 10 Jahre früher hätte es noch keine Behandlung wie zu dem Zeitpunkt gegeben. Ich merke Tag für Tag, dass ich Fortschritte mache über dieses entsprechende Konzept und bin froh über dessen Existenz. Ich finde das alles sogar so spannend, dass ich viel (Fach-)Literatur dazu gelesen habe und mit meinen Behandlern auf Augenhöhe beraten kann, was mir helfen könnte oder nicht. Meine Argumente werden ernst genommen und ich fühle mich gut aufgehoben. Ich weiß für mich, dass ich da einen wertschätzenden Umgang gefunden habe, dem ich mich nicht hilflos ausgeliefert fühle.
Auch wenn ich mich in diesen Strukturen „richtig“ fühle, heißt das aber nicht, dass ich nicht auch viel hinterfrage oder kritisch sehe. Ich kenne genügend Leute, die gegen den eigenen Willen wegen Selbstgefährdung zwangsbehandelt wurden, die fixiert und isoliert wurden, die von Ärzten oder Therapeuten in Form von Schweigepflichtsverletzungen „verraten“ wurden, die mit Medikamenten abgedröhnt wurden usw. – alles Dinge, die zum Kotzen finde! Dass sich so Misstrauen und Ablehnung auf Patientenseite gegenüber dem Hilfesystem bildet, ist total verständlich, würde mir ganz genauso gehen.
Meiner Einschätzung nach werden aber besonders in den Akutpsychiatrien immer noch Konzepte angewendet, die vor x Jahren mal Standard waren. Viel hat sich da nicht weiterentwickelt, obwohl längst neuere Erkenntnisse gewonnen wurden. Aber eine Überarbeitung und Anpassung der Behandlungsleitlinien ist sicherlich – wie überall – eine Frage der Finanzierung, Zeit und Bereitschaft zu Änderungen. Denn natürlich sind dafür Fortbildungen nötig, ggf. müssen Personalschlüssel angepasst werden, Konzepte hinterfragt werden usw.
Ein schönes Pfingstwochenende in die Runde.
Viele Grüße
Claudia