Lesen Sie hier eine Einschätzung zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) aus Sicht von Menschen mit psychischen Erkrankungen bzw. einer seelischen Krise oder Belastung:
Mit der Einführung des BTHG wurden Leistungen und Ansprüche „neu gedacht“ und auf anderen rechtlichen Grundlagen verortet. Viele Ansprüche, die bisher im SGB XII (Sozialhilfe) verortet waren, wurden zum Beispiel nun im SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) verortet. Das ist eine gute und wichtige Veränderung, die dazu führt, dass Menschen, die auf Grund eines Handicaps auf Unterstützungsleistungen angewiesen sind, genau wie andere Menschen auch, ein hohes Einkommen erzielen und Vermögen haben oder aufbauen dürfen – ohne dass dieses zunächst zu einem großen Teil für die Unterstützungsleistungen eingesetzt werden muss.
Darüber hinaus, sollte jedoch auch eine veränderte Haltung und Einstellung den Nutzer*innen sozialer Dienstleistungen und den Menschen, die auf Grund von Einschränkungen darauf angewiesen sind bzw. diese benötigen, etabliert werden. Es sollte einfacher werden, Unterstützungsleistungen zu beantragen, diese sollten „wie aus einer Hand“ (BmAS, o. J.) geleistet werden. Leistungen sollten personenzentriert erbracht werden und die Entscheidung, welche Unterstützung genutzt wird, sollte mehr in die Hände der Menschen mit Handicap gelegt werden. Damit dieser zweite Anspruch realisiert werden kann, müssen Denkmuster verändert werden – bei den Anspruchsberechtigten sowie insbesondere bei den Erbringer*innen sozialer Dienstleistungen. Gerade die Seite der Dienstleister*innen steht damit natürlich vor großen Herausforderungen. Wenn es nun einen Anspruch darauf gibt, dass jede*r Mensch mit Handicap so leben können soll, wie diese*r sich dies wünscht, dann liest sich das großartig. Diesem Anspruch kann man jedoch nur gerecht werden, wenn die zu erbringenden Dienstleistungen auch entsprechend flexibel und variabel sind. Und da wird es dann schwierig – finanziell auf der Anbieter*innenseite zu planen und rentabel zu wirtschaften und vor allem, Beschäftigungsformen und Beschäftigte zu finden, die ebenfalls flexibel genug hierfür sind.
Um ein konkretes Beispiel zu benennen, welches viele Menschen mit psychischen Erkrankungen betrifft, wenn diese älter und pflegebedürftig werden: es fehlt an entsprechend geeigneten Wohnangeboten hierfür. Sie können somit den Wunsch nach und den Anspruch auf ein Wohnen, wie sie es sich vorstellen würden, gar nicht realisieren. Es bleibt häufig nur der Weg in ein klassisches Seniorenheim, das seinen Fokus auf sehr alte und pflegebedürftige Menschen ausgerichtet hat. Die Mitarbeiter*innen dort sind für eine vollkommen andere Zielgruppe ausgebildet, haben es somit sehr schwer, die verschiedenen Bedürfnisse der Bewohner*innen miteinander in Einklang bringen zu können, was schlussendlich weder für diese Mitarbeiter*innen und erst recht nicht für die Menschen mit psychischen Erkrankungen in höherem Alter und / oder mit Pflegebedarf eine gute Situation ist.
Auch die Leistungserbringung „wie aus einer Hand“ (BmAS, o. J.) kann an vielen Stellen so definitiv von Menschen mit psychischen Erkrankungen noch nicht erlebt werden. Nach wie vor werden diese häufig von einer Stelle zur nächsten geschickt, wenn die zuerst kontaktierte Stelle sich nicht zuständig für einen Antrag auf eine Unterstützungsleistung erlebt. Darüber hinaus sind die Antragsverfahren immer noch
viel zu komplex und langwierig und die Antragsformulare an vielen Stellen nur schwer verständlich sowie insgesamt viel zu lang. Bei vielen Leistungen (z. B. Pflegegrad) kann schon bei Antragstellung mit Problemen bei der Geltendmachung gerechnet
werden. Trotz klarer und eindeutiger Bedarfslage werden Ansprüche abgelehnt und die Menschen müssen sich durch belastende und langwierige Widerspruchsverfahren quälen.
Dies ist für viele Menschen mit psychischen Erkrankungen noch deutlich belastender und herausfordernder als für andere Menschen, da krankheitsbedingt häufig reduzierter Antrieb, geringere Motivation und weniger Ausdauer vorhanden sind. Darüber hinaus ist das Durchstehen eines solchen Verfahrens für viele Menschen eine zusätzliche seelische Belastung, die diese dann vermeiden möchten, weil sie sich gerade ohnehin in einer schlechten Verfassung befinden. Auch mit Begleitung und Unterstützung durch Dienste wie z. B. eine EUTB oder den Sozialpsychiatrischen Dienst, schrecken viele Menschen vor dem emotionalen Stress zurück, der durch komplizierte Antragsverfahren und zum Teil lange Bearbeitungszeiten für sie entsteht. Und da wird es dann paradox, wenn das Beantragen einer Unterstützungsleistung zum zusätzlichen Stressor wird, der die gesundheitliche Situation in einigen Fällen sogar noch weiter verschlechtert.
Der Prozess der Einführung dauert nun bereits 5 Jahre an. Wenn immer noch so viel Entwicklungspotential besteht, dann sollte sich mit der Frage beschäftigt werden, was es braucht, damit dieses Potential nun langsam auch ausgeschöpft werden kann. Denn das definierte Ziel von „Teilhabe und Selbstbestimmung“ (BmAS, 2020) ist für die Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, zu wichtig, als dass dieses noch weiter aufgeschoben werden könnte. Jedes Jahr, welches verstreicht, ohne dass sich notwendige Veränderungen einstellen, ist ein Jahr Lebenszeit für viele Menschen, die auf genau diese Veränderungen dringend angewiesen sind. Die Lebensqualität dieser Menschen ist es, die auf dem Spiel steht.
Quellen
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2020) https://tinyurl.com/2mduh6tp Bundesministerium für Arbeit und Soziales (o. J.) https://tinyurl.com/2qhc8bbp Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) https://tinyurl.com/2ozm5bjb Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz https://tinyurl.com/2kb6hc93
Weitere Informationen zum BTHG:
Was ist das BTHG
Das BTHG steht für „Bundesteilhabegesetz“ und ist ein Gesetz in Deutschland, das Menschen mit Behinderungen dabei helfen soll, selbstbestimmt zu leben und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Das Gesetz wurde im Jahr 2016 beschlossen und in mehreren Schritten bis 2023 umgesetzt. Es umfasst verschiedene Maßnahmen, wie zum Beispiel die Verbesserung der beruflichen Bildung und der Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen sowie die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft.
Ein weiteres Ziel des BTHG ist es, die Eingliederungshilfe, also die Unterstützung für Menschen mit Behinderungen, zu reformieren und zu verbessern. Dabei sollen insbesondere die Bedarfe der betroffenen Menschen stärker berücksichtigt und individuelle Lösungen gefunden werden.
Insgesamt soll das BTHG dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des Lebens gleichberechtigt und selbstbestimmt leben können.
Welche Kritikpunkte gibt es im Allgmeinem am BTHG?
Obwohl das BTHG als wichtiger Schritt zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen angesehen wird, gibt es auch Kritikpunkte. Einige der häufigsten Kritikpunkte sind:
- Mangelnde Umsetzung: Obwohl das BTHG seit 2016 in Kraft ist, wurden viele der geplanten Maßnahmen noch nicht vollständig umgesetzt.
- Kürzung von Leistungen: Kritiker bemängeln, dass durch das BTHG die Leistungen für Menschen mit Behinderungen teilweise gekürzt wurden, was zu einer Verschlechterung der Versorgung führen kann.
- Bürokratische Hürden: Das BTHG hat zu einer starken Zunahme der Bürokratie geführt, was für betroffene Menschen und ihre Familien oft sehr belastend ist.
- Mangelnde Berücksichtigung von Bedarfen: Manche Kritiker bemängeln, dass das BTHG zu wenig auf die individuellen Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Behinderungen eingeht und zu sehr auf standardisierte Lösungen setzt.
- Ungerechte Verteilung von Leistungen: Es gibt auch Kritik daran, dass das BTHG nicht für alle Menschen mit Behinderungen gleichermaßen positive Auswirkungen hat, sondern dass es teilweise zu Ungleichheiten in der Versorgung führt.