
Bericht eines unserer Mitglieder, der in der Selbsthilfe aktiv ist. Er stellt fest, dass immer weniger Betroffene eine Selbsthilfegruppe besuchen, um sich dort auszutauschen um sich „selbst zu helfen“ – dafür immer mehr eine Beratung unter vier Augen suchen.
Vom Wert der beratenden Selbsthilfe…
Seit Jahren gingen die Zahlen zurück: Immer weniger Betroffene und Angehörige suchten die Treffen unserer Selbsthilfegruppe auf; immer öfter saß ich alleine da und wartete darauf, dass sich angemeldete Besucher bequemen würden, zu unseren Zusammenkünften hinzuzustoßen. Dabei hatten sie es bei ihrer Kontaktaufnahme mit mir noch recht eilig, das Gruppengespräch konnte gar nicht früh genug stattfinden, so groß war oftmals der Leidensdruck, mit dem Erkrankte bei mir anriefen. Doch so wichtig konnte es dann doch nicht sein, das Miteinander unter Seinesgleichen, mithilfe dessen sich viele Betroffene erhofften, einen zur Therapie ergänzenden Erfolg in ihrer Krankheitsgeschichte zu erzielen.
Stattdessen erlebe ich heute vielmehr, dass sich Menschen in sozial und gesundheitlich schwierigen Lebenslagen ganz individuell an die Selbsthilfe wenden: Da möchte man sich nicht mehr in einer Gruppe offenbaren, wenngleich der Rahmen noch so sehr geschützt zu sein scheint. Da will man lieber von zuhause aus einen schnellen Rat, eine rasche Information, aber keine regelmäßige Verpflichtung, an einem Abendtermin untereinander ins Gespräch zu kommen. Der Sinn der Selbsthilfe, er hat sich gewandelt. Der Erfahrungsaustausch mit vielen Anderen, er ist einem Kontakt unter vier Augen gewichen – sei es nun persönlich, per Mail oder auch am Telefon.
Die beratende Selbsthilfe, bei der Krankheitserfahrene dem einzelnen Hilfesuchenden gegenüberstehen, sie wird an Wert gewinnen, davon bin ich überzeugt. War es über Jahrzehnte hinweg der Kerngedanke der Selbsthilfe, in der Gruppe untereinander Mut zuzusprechen, von den eigenen Erlebnissen zu berichten und aus den Schilderungen des Nächsten für sich selbst einen Mehrwert zu ziehen, so dürften wir im 21. Jahrhundert der Selbstbedienungsmentalität in der Selbsthilfe ein Stückchen nähergekommen sein. Der Anspruch wächst, für das eigene Problem, die momentane Notlage zügig eine Abhilfe zu finden – ohne dabei den für viele als lästig empfundenen Weg über die kontinuierliche Teilnahme an einer Gruppe zu gehen.
Dass dabei aber insbesondere der soziale Aspekt verlorengeht, wonach Selbsthilfe auch dazu beitragen sollte, den Kontakt zur Außenwelt wieder neu zu festigen, das scheint diejenigen nicht zu stören, die mit einer gewissen Erwartungshaltung auftreten: Selbsthilfe als eine Bringschuld, so nehme ich meine Position als bürgerschaftlich Engagierter immer öfter wahr. In einem Gesundheits- und Sozialwesen, das längst nicht mehr all das zu leisten vermag, was wir als Patienten und Klienten an Fragen und Informationsbedürfnis mitbringen, da wird der ehrenamtliche Einsatz für den Mitmenschen zu einer Dienstleistung der besonderen Art. Selbsthilfe als 1:1-Betreuung, zumindest die Vorstellung kreist in den Köpfen von so Manchem.
In Zeiten, in denen wir auf der Suche nach Ratschlägen und Hilfsangeboten auch zusehends Foren, Chats und soziale Netzwerke heranziehen, wird der Charakter der Einzelberatung der Selbsthilfe noch deutlicher unterstrichen: Das, was im „World Wide Web“ nicht zu finden ist, das erhofft sich der Betroffene über Selbsthilfeberatung doch noch in Erfahrung zu bringen. Dabei ist klar: Der Rückzug auf die heimische Couch, er verstärkt eine ängstlich-depressive Grundeinstellung, die Ursache für so manches Übel. Und so fördert ein Trend hin zu mehr individueller Nächstenliebe den Kreislauf aus Rückzug und neuen Problemen. Selbsthilfe, die nicht länger auf die Gruppe als zentrales Werkzeug setzt, sie verliert an Durchschlagskraft.
Ich selbst habe mich mittlerweile auf das veränderte Nutzungsverhalten der Ratsuchenden eingestellt und bin seither zu einem ständigen Ansprechpartner für Sorgen und Anliegen all jener geworden, die ich mit den Vorteilen einer Selbsthilfegruppe heutzutage nicht mehr hinter dem Ofen hervorzulocken vermag. Für denjenigen, der sich in der Selbsthilfe engagieren möchte, bedeutet der Wandel hin zur Unterstützung des Einzelnen, dass die Gruppentreffen einerseits an Bedeutung verlieren. Andererseits bleibt der Solidaritätsgedanke der Betroffenen untereinander aufrecht – auch wenn Selbsthilfe vom Gemeinschaftssinn zur individuell beratenden Allzweckwaffe in schwierigen Lebenslagen mutiert.
Und zweifelsohne ist im Einzelgespräch – über welche Kanäle es nun geführt werden mag – auch weiterhin all das möglich, wofür die Selbsthilfe nicht erst seit den 1970er-Jahren steht: Edukation, Erfahrungsaustausch, Information. Sie wird exklusiver, dadurch aber nicht weniger intensiv. Im Gegenteil: Die beratende Selbsthilfe wird ein Garant dafür sein, auf die Situation des einzelnen Betroffenen noch passgenauer eingehen zu können. Gruppentreffen dürfen nichts an ihrer besonderen Stellung einbüßen. Sie sind auch weiterhin das Ideal der Selbsthilfe, über das sich die wechselseitigen Synergien erwirken lassen, von denen schon so viele Menschen profitiert haben.
Aber geben wir neuen Formen der Selbsthilfe eine Chance, ehe wir allein die Nachteile in ihnen sehen: Es ist der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft geschuldet, dass sich auch die Selbsthilfe neuen Anforderungen hingeben muss. Das bedeutet nicht, dass Liebgewonnenes in die Tonne gekickt wird. Viel eher müssen wir dort, wo das bewährte Modell der Gruppenselbsthilfe Aussichten auf Zukunft hat, um den Fortbestand jeder einzelnen Zusammenkunft von Menschen ringen. Gleichsam sollte sich jedoch niemand grämen, wenn Selbsthilfe von heute anders funktioniert als noch vor zwanzig Jahren: Solange das Engagement füreinander lebt, spielen seine Erscheinungsformen eine nachrangige Rolle.
Dennis Riehle
Selbsthilfeinitiative
Zwangserkrankungen, Phobien,
psychosomatische Störungen und Depressionen
Martin-Schleyer-Str. 27
78465 Konstanz
Mail: info@zwang-phobie-depression.de
Web: www.zwang-phobie-depression.de