Übersicht: Barrieren für psychisch kranke Menschen

Die Selbsthilfegruppe SPER aus Reutlingen hat sich Gedanken über Barrieren für psychisch erkrankte Menschen gemacht. Mit deren Erlaubnis wollen wir diese interessanten Ausführungen der Öffentlichkeit zugänglich machen:

Im Beirat Selbsthilfe der Inklusionskonferenz des Landkreises Reutlingen und im Landes-Behindertenbeirat wurde in den letzten Jahren viel über Barrieren von Menschen mit Handicap besprochen und dafür politische Lösungen und Forderungen gestellt. So wurden für Rollstuhlfahrer die Landesbauordnung dahingehend geändert, dass barrierefreie Zugänge zu Behörden, Schulen, Wohnungen, Veranstaltungsräume usw. geschaffen werden. Bordsteine und Bushaltestellen wurden Rollstuhlgerecht gestaltet. Bei Bussen und Zügen gibt es Ein- und Ausstiegsvorrichtungen. Für Blinde werden Markierungen auf Gehwegen, Fußgängerzonen und Bushaltestellen geschaffen. An Bushaltestellen gibt es akustische Fahrplanansagen. Für hörgeschädigte und stumme Personen gibt es bei vielen Veranstaltungen und zunehmend auch im Fernsehen Gebärdendolmetscher. Fast alle Menschen mit einer Behinderung erhalten im Schwerbehindertenausweis Merkzeichen, mit denen sie in ganz Deutschland kostenlos öffentliche Verkehrsmittel benutzen können, Befreiung von Rundfunkgebühren erhalten. Psychisch kranke Menschen erhalten nichts dergleichen.

Dass es auch für psychisch kranke Menschen Barrieren gibt, ging bisher unter. Es wurde deshalb beim heutigen SPER-Treffen ein Brainstorming gemacht, welche Barrieren es für psychisch kranke Menschen gibt. Die Liste ist nicht vollständig. Wer weitere Barrieren kennt, möge dies bitte Klaus mitteilen. Das Thema wird auch bei weiteren Treffen der SPER immer wieder eine Rolle spielen.

  • Viele psychisch kranke Menschen (pkM) haben Probleme, irgendwo hinzugehen. Sie schaffen es nicht, sich zu motivieren, sich auf den Weg zu machen. Dies gilt insbesondere für Behördenbesuche, zur Arbeit, zu Veranstaltungen.

  • Bei öffentlichen Veranstaltungen sollte es Rückzugsräume geben. Während Veranstaltungen gibt es bei pkM oft Momente, in denen sie die Menschenmassen nicht ertragen oder einfach müde werden. Nach einer Ruhepause könnten sie wieder an der Veranstaltung teilnehmen.

  • Es fällt pkM schwer, Hilfe anzufordern.

  • Wenn man seine Krankheit offenbart, wird man schlecht behandelt.

 

  • Wenn man als pkM dem Arbeitgeber seinen Schwerbehindertenausweis zeigt, wird man nicht eingestellt, gekündigt oder nicht befördert. Man wird gemoppt.

 

  • Durch die körperlichen Folgen der starken Medikamente wie Müdigkeit, Konzentrationsmangel, fehlende Ausdauer fehlt pkM oft die Kraft, an Veranstaltungen teilzunehmen. Wie sollen da ganztägige oder mehrtägige Schulungen, Tagungen, eine 4-stündige Gerichtsverhandlung und dergleichen erfolgreich bewältigt werden.

 

  • Bei der Regio sollte z.B. mehr Abwechslung geplant werden. Anstatt Vorträgen sollten die Teilnehmer bei Themen beteiligt werden. Diskussionen sind leichter auszuhalten als Vorträge.

 

  • Oft werden einem die sedativen Folgen der Psychopharmaka als Faulheit vorgeworfen.

 

  • Fehlende Arbeitsplätze zwingen pkM, mit sehr wenig Geld auszukommen. Das ist eine sehr große Barriere mit gravierenden Folgen für die Teilnahme am öffentlichen Leben, Konzerten, Sport, Mobilität, Wohnen,  ….

  • Kommunikation ist für viele pkM sehr schwierig.

    Bei Depressionen will man mit Niemandem reden. Man will nicht aus dem Haus. Man kann sich kein Telefon, Fernseher, Radio, Rundfunkgebühren, Internetanschluss, Computer leisten. Wie soll da Kommunikation funktionieren.

  • Es gibt keine Übersicht für Hilfsangebote. Selbst beratende Menschen fehlt der Überblick.

  • PkM gelten als gefährlich, faul. Diese Vorurteile diskriminieren und grenzen pkM aus.

  • Anträge für Rente, Schwerbehinderungsausweis und Anträge bei Behörden sind zu schwierig.

  • Ärzte beurteilen aus Unkenntnis pkM schlechter als „gesunde“. Dies führt zu schlechteren Behandlungen, Rehas oder selteneren Erwerbsminderungsrenten als bei Menschen mit anderen Handicaps.

  • Manche Hilfen gibt es nur, wenn man viele Klinikaufenthalte hinter sich hat.

  • Ambulante Pflege ist nur schwer zu erhalten. Da pkM oft nur Pflegegrad 1 erhalten, gibt es keine Anbieter, die mit 130 € im Monat ein Pflegeangebot machen.

    Bei Pflegegrad 2 (360 €) gibt es eher Unterstützung.

    Teure Klinikaufenthalte könnten vermieden werden, wenn Pflegekräfte neben Gesprächen auch im Haushalt mithelfen, zur Haushaltsführung motivieren, oder mithelfen, den Tagesablauf aufzubauen. Bei einer chronischen Negativsymptomatik (Herabsetzung, Minderung und Verarmung psychischer Merkmale) ist dies sehr wichtig.


(Im Internet habe ich für die, die wie ich den Begriff nicht genau verstehen,  folgende Erklärung zur Negativsymptomatik erhalten:

  • PkM mit Pflegebedarf werden meist an Wohngruppen oder gar an Fachpflegeheime verwiesen. Dort ist die Pflege auch sehr minimal. Autisten werden ganz anders unterstützt.

  • In den psychiatrischen Kliniken gibt es keine Unterstützung

    – bei der Wohnungssuche
    – bei der Arbeit (wie bewerbe ich mich, wie gehe ich mit Chefs und Kollegen um,Negativsymptomatik betrifft Affekt, Antrieb, Psychomotorik und Denken:

    Der Affekt ist verarmt, d.h. die emotionale Erlebnisfähigkeit ist eingeschränkt, das Spektrum an Gefühlen ist reduziert. Der Patient kann unfähig sein, Freude zu empfinden (Anhedonie) und erscheint indifferent bzw. gleichgültig. Eine derartige Affektverarmung geht praktisch immer einher mit einer Affektverflachung, d.h. einer ausgeprägt herabgesetzten affektiven Schwingungsfähigkeit.

    Der Antrieb ist vermindert; die Betroffenen zeigen weniger Interesse und sind weniger aktiv.
    Die Psychomotorik ist reduziert. In Mimik und Gestik wirken Patienten wenig lebhaft oder sogar starr, die Stimme ist kaum moduliert.
    Das Denken ist ebenfalls verarmt, leer und einfallslos, mit allgemein weniger Denkinhalten.
    Hinzu kommen zumeist kognitive Einschränkungen in Form von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen.
    Ausgeprägte Negativsymptomatik führt oft zu sozialer Isolation und beruflichem Abstieg.)


      IFD ist nicht zuständig; PiA gib es nur in WfbMs

  • Kontaktaufnahme mit fremden ist auf allen Bereichen schwer (Arbeit, Vereine, Freunde und Lebenspartner finden)

  • Es ist schwer, psychische Leiden zu beschreiben, dass es „Gesunde“ verstehen. Depressionen werden noch am ehesten verstanden. Andere psychische Krankheiten werden nicht verstanden. Man kann sich nichts unter diesen Diagnosen vorstellen. Was eine schizophrene Psychose ist versteht man gar nicht. Die Diagnose führt lediglich zur Ablehnung der psychisch kranken Person.

    Verstehen und Verständnis zeigen können nur selbst psychisch erkrankte Menschen.

  • In den Kliniken gibt es keine Beratung, wie man über seine Krankheit (beim Bäcker, Arbeitgeber, Kollegen, Vereine, Freunden … reden kann, ohne diskriminiert zu werden.

    Es gibt Erfahrungen, dass man eher verstanden wird, wenn man nicht seine Diagnose nennt, sondern beschreibt, was man erlebt hat und welche Gefühle dabei aufgetaucht sind.

  • In Kliniken sollte über das Outing seiner Krankheit gesprochen werden. „In Würde zu sich stehen“ (IWS) sollte in den Klinken gelehrt werden.

  • Trotz dem Hilfesystem werden pkM allein gelassen.

    Selbsthilfe ist hier die Ausnahme.

Mir ist aufgefallen, dass viele sich Inklusion gar nicht vorstellen können. Die Stigmatisierung macht mutlos. Die Ausgrenzung durch andere, aber auch die Selbststigmatisierung hindert die meisten, über die Heilung ihrer psychischen Erkrankung hinaus zu denken. Über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben denken getrauen sich viele nicht nachzudenken. Es frustet ja nur. Es tauchen keine Ziele hinsichtlich der Inklusion auf.

 

(Klaus Mantel, SPER)