Regio: Betroffenenbericht: Verantwortungsvoller Umgang mit Psychopharmaka

Besondere Aufmerksamkeit und Applaus erhielt bei der Regio 2019 der Erfahrungsbericht einer Betroffenen zum Thema „Verantwortungsvoller Umgang mit Psychopharmaka aus Sicht der Selbsthilfe“. Wir möchten diese wichtigen Informationen hier nochmals allen Interessierten zur Verfügung stellen.

Regio 2019

Kurzfassung des Vortrags zum Tagungsthema aus Sicht der Selbsthilfe

Mein Name ist Anita Wild. Ich bin 52 Jahre alt und spreche als Betroffene zum Thema Psychopharmaka reduzieren.

Ich habe den 3. EX-IN-Kurs in Stuttgart absolviert. Bis März 2018 war ich 2 Jahre lang Vorstandsmitglied im LVPEBW. Im Schulprojekt „Verrückt-na-und“ war ich viele Jahre aktiv.

Die Behandlung von uns Psychose-Erkrankten beschränkt sich immer noch fast ausschließlich auf die Gabe von Psychopharmaka.

Vorab sehr wichtig: ich lehne jegliche Dogmatik ab, egal in welche Richtung.

Es gibt kein gut – keine Medikamente einnehmen- und kein schlecht – Medikamente einnehmen.

Als oberstes Gebot gilt immer die Selbstbestimmung des Betroffenen !

Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Jeder Mensch ist anders und jeder muss für sich neu selbst entscheiden.

Entscheiden können wir Betroffenen aber nur, wenn wir von den Profis über den Nutzen und die Risiken der Neuroleptika informiert und aufgeklärt werden.

Es macht keinen Sinn, uns Fakten vorzuenthalten aus Angst wir nehmen die Arzneimittel dann nicht. Viele machen das aufgrund der heftigen Nebenwirkungen sowieso und dann auch heimlich.

Den Psychiater anzulügen gefährdet die Behandlung.

Einen Psychiater zu finden, der bereit ist, Psychose-Erkrankte beim Reduzieren zu begleiten ist leider immer noch schwer.

Hier stellen sich die spannenden Fragen:

Wie können wir in BW die Möglichkeit, Neuroleptika zu reduzieren in ärztlicher Begleitung vorantreiben?

Wie können wir es praktisch realisieren ?

Und wie können wir ein Netzwerk aufbauen ?

Strukturelle Probleme behindern das Reduzieren. Diese sind bekannt und werden immer wieder diskutiert, wie z.B.:

Psychiater erhalten für ihre Patienten zu wenig Zeit.

Kliniken dosieren die Patienten mit Neuroleptika (NL) Choch, um sie möglichst früh entlassen zu können.

Zur Nachsorge reichen die ambulanten Hilfen dann nicht aus, so dass der Patient wieder in die nächste Krise gerät.

Es mangelt generell an Sozio- und Psychotherapie-Angeboten.

Die Kostenfrage stellt sich wieder: wer soll das alles bezahlen ?

Meiner Meinung nach sollte man nicht schauen, was eine einzelne medizinische Behandlung kostet, sondern was ein psychisch erkrankter Mensch in seinem ganzen Leben kostet.

Es lohnt sich in Jugendliche, junge Erwachsene zu investieren, die erstmals psychisch erkranken.

Kostspielige Konzepte wie Soteria und Offener Dialog zahlen sich aus, da die Betroffenen personenzentriert gefördert werden und sie die Chance erhalten, den Sprung ins Berufsleben zu schaffen.

Das spart Kosten für lebenslange Erwerbsminderungsrente, Grundsicherung bzw. Hartz IV.

Zwischen den Kostenträgern müsste es Ausgleichszahlungen geben. Die Agentur für Arbeit und die Rentenversicherung müssten die kostenintensive Betreuung junger Menschen mehr mitfinanzieren.

Für uns Psychisch Kranke ist es besonders wichtig unsere Fähigkeiten auch im Berufsleben zeigen zu können, um stabil und gesund zu bleiben als gleichwertiges Mitglied unserer Gesellschaft.

Was hat das mit Psychopharmaka reduzieren zu tun ?

Nehmen Sie einmal 400 mg Clozapin (Leponex) ein und versuchen Sie, morgens um 8:00 aufzustehen, geschweige denn aus dem Haus zu gehen, geschweige denn arbeiten zu gehen.

Versuchen Sie mit 400 mg Clozapin zwei Stunden lang am Stück ruhig sitzen zu bleiben und sich zu konzentrieren.

Die Dosis macht das Gift.

Besonders problematisch ist die Einnahme hoher Dosen mit den bekannten gravierenden Folgen: Gefühle auf Eis, Gewichtszunahme u.s.w.

Das nächste Problem ist: einmal Clozapin, immer Clozapin.

Für uns mehrfach Psychose-Erkrankte bedeutet das meist eine lebenslange NL-Einnahme.

Was passiert im Gehirnstoffwechsel ?

Sehr stark vereinfacht wird bei psychotischem Erleben der Botenstoff Dopamin vermehrt ausgeschüttet. NL blockieren die Dopaminrezeptoren und damit die Dopaminwirkung. Der Gehirnstoffwechsel versucht die ständige Wegnahme des Dopamins auszugleichen, indem er neue und sensitivere Dopaminrezeptoren bildet. Damit diese sich wieder nach und nach zurückbilden können muss man die NL sehr langsam reduzieren.

Am Beispiel Clozapin: die offiziell niedrigste Dosis beträgt hier 50 mg. 10 % weniger sind dann 45 mg. Viele Psychiater reduzieren viel zu schnell mangels Erfahrung.

Bei zu schnellem Reduzieren der NL besteht die Gefahr eine Absetzpsychose zu bekommen.

Diese ist zu unterscheiden von einem erneuten Krankheitsschub !

Die Interessen der Betroffenen, Angehörigen und Profis gehen oft auseinander.

Bei den Profis habe ich den Eindruck, dass ihr oberstes Ziel ist, dass der Patient ja nicht wieder psychotisch wird. Das verbuchen sie als persönlichen Misserfolg.

Sie neigen dazu, alles vom Patienten fernhalten zu wollen, was Stress für ihn bedeuten könnte.

Das geht auf Kosten unserer Lebensqualität und Teilhabe.

Viele Betroffene sind auf intensive Betreuung Ihrer Angehörigen angewiesen. Die Angehörigen müssen zusehen, wie die Tochter oder der Sohn wieder mal die NL weglässt und dadurch wieder psychotisch wird und in die Klinik muss.

An dieser Stelle wünsche ich mir einen sachlichen Austausch. Ruft nicht die meist lebenslange hochdosierte Einnahme von NL erneute psychotische Krisen hervor ?

Ich wünsche mir einen respektvollen trialogischen/ tetralogischen Austausch miteinander. Eine konstruktive Streitkultur !

Dass wir gemeinsam nach vorne schauen, gemeinsam nach Lösungen suchen und uns austauschen, was den Betroffenen gesund hält und wie man das bei jedem einzelnen praktisch umsetzen könnte.

Besonders liegen mir die sog. chronisch Kranken am Herzen, die in Heimen leben und die keinen Fürsprecher haben, wenn sie keine Angehörigen haben.

Zur Würde eines jeden Betroffenen gehört, dass er gefragt wird, was er gerne tun würde.

Tagesstruktur ist eine wunderbare Sache. Seine individuellen Wünsche ausprobieren zu dürfen ist noch besser. Das sollte möglichst früh beginnen, weil der Erkrankte immer mehr den Zugang zu seinen Wünschen verliert.

NL reduzieren ist keine reine Arztsache ! Der Arzt sollte mit den Sozial-Profis zusammenarbeiten, denn die sehen den Heimbewohner täglich.

Chronisch krank oder chronifiziert krank ?

Ich bin überzeugt, dass einige Heimbewohner viel selbstständiger und selbstbestimmter leben könnten, wenn sie rechtzeitig personenzentriert gefördert würden.

Wir denken: der ist aber arg krank.

Und vergessen dabei, dass sein Aussehen und Verhalten nicht nur krankheitsbedingt ist, sondern dass die hohe Medikation den Menschen verändert hat. Die Minussymptomatik wird verstärkt, es entsteht ein Teufelskreis.

Jeder Mensch besitzt Begabungen und Ressourcen, die er praktisch umsetzen und für ein zufriedenstellendes sinnerfülltes Leben nutzen kann.

Man muss es nur finden und abrufen. Das ist auch die Aufgabe der Sozial-Profis.

Ich habe schon mehrfach persönlich und in der Literatur von Menschen gehört, bei denen eine Heimunterbringung bevorstand bzw. bestand und die durch die entsprechende Förderung heute ein aktives selbstbestimmtes Leben führen mit eigener Wohnung etc.

Ein hoffnungsvolles sinnerfülltes Leben ist ein zentraler Schutzfaktor, um nicht mehr in die Psychose flüchten zu müssen.

In der Psychose bin ich das Zentrum des Universums. Die tiefsitzende unerträglich quälende Unsicherheit verschwindet.

Das brauch ich nicht mehr, wenn ich im realen Leben lerne, mich wertzuschätzen.

Die Inhalte von Psychosen können die Dissonanzen im Leben aufzeigen. Wie auch die Inhalte von Träumen haben auch die Inhalte der Psychosen bedeutungsvolle Symbolkraft.

Vielen Leidensgenossen wäre geholfen, wenn sie wertfrei über ihre psychotischen Erfahrungen sprechen dürften und nicht damit alleine gelassen würden.

Stattdessen beschränkt sich die heutige Behandlung immer noch darauf, die Plussymptome als krank zu unterdrücken mit Medikamenten.

Die von Dorothea Buck seit Jahrzehnten kritisierte Sprachlosigkeit in der Psychiatrie ist bis heute Alltag, vor allem in den Kliniken.

Man kann es nicht oft genug wiederholen:

Die Haltung der Profis ist für einen Behandlungserfolg essentiell.

Die Mitarbeit von uns EX-IN-GenesungsbegleiterInnen in den professionellen Teams fördert die wertschätzende, ressourcenorientierte Haltung und gewährleistet, dass miteinander gesprochen wird anstatt übereinander.

Wie sehen konkrete Schritte zum Reduzieren von NL aus ?

Bevor ich mich entscheide zu reduzieren, muss ich mir Gedanken darüber machen, warum ich reduzieren will. Nur die Medikamente weghaben wollen ist nicht ausreichend.

Damit das Reduzieren gelingt, sind einige Dinge zu beachten:

  • Es muss begleitet sein von alternativen Bewältigungsstrategien. Ersatzlos reduzieren geht schief.
  • man sollte langsam reduzieren, max. in 10%-Schritten
  • Zentrale Frage ist: Was brauche ich, um gesund zu bleiben ?
  • Pausen einlegen im Alltag ist wichtig
  • mit Krisen muss ich rechnen. Notfalls muss auf die vorige Dosis wieder erhöht werden
  • Selbstfürsorge ist wichtig: wieviel und welchen Stress halte ich aus, wann wird es zu viel, welche Maßnahmen der Stressreduktion passen zu mir ?

Ich profitiere vom Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen, die beim Reduzieren mutiger sind als ich. Von ihnen lerne ich mehr Gelassenheit und einen selbstbewussteren Umgang mit der Erkrankung.

Sich austauschen über individuelle Bewältigungsstrategien und sich gegenseitig unterstützen: Da wäre doch eine Selbsthilfegruppe (SHG) genau das Richtige !

Dieser Gedanke kam mir vor knapp 3 Jahren.

Über den EX-IN-Kurs Stuttgart erhielt ich eine 4-seitige Absetzhilfe von Christel Achberger und Jann E. Schlimme.

Inzwischen ist daraus innerhalb des LVPEBW die Arbeitsgruppe entstanden: „Neuroleptika reduzieren in ärztlicher Begleitung“.

Auf der LVPEBW-Homepage ist die AG als Schwerpunktthema zu finden.
(Hier ist der Link)

Wir suchen noch Interessenten, die die Gruppe mitgestalten möchten und auch diejenigen, die gerne an der Gruppe teilnehmen.

Und ganz wichtig: zur Begleitung der SHG suchen wir noch Profis.

Es lohnt sich, am Büchertisch zu schmökern.

Dort finden Sie auch Kopien der Absetzhilfe zum Mitnehmen und weitere Literatur zum Thema.

Eine kleine von mir erstellte Literaturliste liegt auch aus.

Besonders empfehlenswert ist die DGSP-Broschüre „Neuroleptika reduzieren und absetzen“.

Herzliche Einladung auch heute Nachmittag zur AG 1 „Begleitete Reduktion von Psychopharmaka“.

Mein Vortrag ist jetzt zu Ende.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit