Eine Stellungnahme des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener BadenWürttemberg e.V. zum fehlenden Fokus auf den Recovery-Ansatz und der unzureichenden Versorgung mit psycho- und soziotherapeutischer Begleitung:
Der Fokus vieler Kliniken und sozialer Einrichtungen vermittelt häufig zu wenig Hoffnung für Betroffene von psychischer Erkrankung. Der Grund dafür liegt darin, dass die vollständige Überwindung von sich wiederholender psychischer Krisen bei chronisch psychiatrischer Diagnose als wenig aussichtreich gesehen wird. Aus Sicht des LVPEBW e.V. sollte das Ziel der Behandlung nicht nur die Überwindung der psychischen Krise per se sein; die Aufgabe der Kliniken und sozialen Einrichtungen sollte vielmehr darauf gerichtet sein, nicht nur die gesundheitliche Krise zu überwinden, sondern auch mit der Krankheit leben zu lernen. Auch ohne vollständige Genesung kann ein zufriedenes und an der Gesellschaft teilhabendes Leben geführt werden.
Psychopharmakologische Medikation zielt darauf ab, psychische Krisen nicht mehr entstehen zu lassen. Dabei zeigt sich, dass Medikamente nur bedingt psychische Krisen verhindern. Viele Betroffene sind trotz dauerhafter Medikation von Krisen betroffen. Sie werden aber nur allzu oft zu wenig bei der Frage unterstützt, wie man MIT den Krisen ein zufriedenes und erfülltes Leben leben kann.
Es gibt immer wieder Beispiele von Menschen, die eine Recovery durchlebt haben und TROTZ ihrer manchmal auftretenden psychischen Krankheitsepisoden voll und ganz im Leben stehen. Das Problem von vielen Psychiatrie-Erfahrenen ist nicht NUR die Krise, sondern vor allem auch die fehlende Teilhabe an der Gesellschaft, die fehlende Selbstständigkeit und Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Psychiatrie-Erfahrene leiden oft unter Selbststigmatisierung, einer negativen Sicht auf die eigene Person und unter dem Verlust von Selbstwert und Selbstvertrauen.
Soziale Isolation, fehlende gesellschaftliche Teilhabe und Verlust des Selbstwerts und des Selbstvertrauens gehen Hand in Hand. Wenn Betroffene wieder positiv auf sich selbst blicken, dann können sie wieder einen Schritt auf andere zumachen. Soziale Teilhabe und Inklusion sind meist Vorbedingung für ein zufriedenes und erfülltes Leben.
Psychotherapeutische aber vor allen Dingen die soziotherapeutische Begleitung können dabei helfen, genau dieses Im-Leben-Stehen und das zufriedenstellende Leben TROTZ der Erkrankung zu begünstigen. Ebenso die Begleitung durch Peers. Menschen mit psychiatrischer Diagnose brauchen die Gespräche in der Psychotherapie, um ein Leben MIT der Erkrankung zu ermöglichen und zu reflektieren. Sie brauchen aber auch die konkrete Unterstützung durch die Soziotherapie bei der Bewältigung ganz alltäglicher Aufgaben.
Wir sind der felsenfesten Überzeugung, dass eine selbstverantwortliche Lebensführung und -gestaltung und ein Zurechtkommen mit dem eigenen Leben trotz Krisen die Hospitalisierungsraten deutlich reduzieren können. Der Weg zur Symptomfreiheit und Überwindung der psychischen Krankheitsepisoden geht für viele über die Überwindung von persönlichen Krisen und über die Überwindung von Isolation und Selbststigmatisierung.
Aber gerade Psychotherapie und besonders die Soziotherapie steht noch viel zu wenigen Menschen mit psychiatrischer Diagnose zur Verfügung. Mit Erschrecken stellt der LVPEBW e.V. fest, dass Soziotherapie viel zu selten verschrieben, kaum bei Betroffenen bekannt und nicht flächendeckend eingesetzt wird. Mit Erschrecken stellt der LVPEBW e.V. auch fest, dass Psychotherapieplätze rar sind und viele Erkrankte auf langen Wartelisten stehen, ohne jemals eine psychotherapeutische Begleitung zu erhalten.
Was kann die Politik tun? Zunächst ganz konkret: Die Erbringung von Soziotherapie durch die Sozialpsychiatrischen Dienste steht auf der Kippe. Diese ist durch die nicht kostendeckende Finanzierung durch die Krankenkassen bedroht. Hier ist ein Handeln der Politik erforderlich, damit hier eine Versorgung auch weiterhin gesichert ist. Grundsätzlich sollte die Politik sich für einen Ausbau von Psycho- und Soziotherapie einsetzen und stringent die Umsetzung des Recovery-Ansatzes fördern und vertreten.
Was können soziale Einrichtungen und Kliniken tun? Hier ist es ausschlaggebend, zusammenzuarbeiten und das frühzeitige Auffangen nach Überwindung der Krise zu sichern. Kliniken bieten Auffangmöglichkeiten bei akuter Krankheitssymptomatik und sollten die Nachsorge für Patienten nach dem Entlassen gewährleisten. Bei sozialen Einrichtungen geht es darum, nicht erst eine Unterstützung anzubieten, wenn die Lebensumstände bereits unerträglich geworden sind. Frühzeitiges Eingreifen in eine Abwärtsspirale aus immer größerer sozialer Isolation, Selbstwertverlust und mangelnder sozialer Teilhabe ist unabdingbar. Die soziale Isolation von Menschen mit psychischer Behinderung ist ein schleichender Prozess. Betroffene sollten frühzeitig aufgefangen werden und bei Entstehung der Krankheit und nach den ersten Krisen nicht allein gelassen werden. Hierzu sind psycho- und soziotherapeutische Begleitung wichtige Elemente. Eine spätere Abhängigkeit von z.B. Eingliederungshilfe in Werkstätten für Menschen mit Behinderung sowie im Wohnbereich kann in vielen Fällen durch eine möglichst frühzeitige therapeutische Unterstützung vermieden werden. Leider fehlt nur allzu oft diese therapeutische Begleitung nach der Krise, und es entstehen enorme gesundheitsökonomische und soziale Folgekosten.
Der LVPEBW e.V. setzt sich für eine Ausweitung der Sozio- und Psychotherapie ein. Diese fungiert nicht zu Letzt als eine Prävention vor einem chronischen von Unterstützung abhängigen Verlauf. Der LVPEBW e.V. setzt sich auch für eine neue Denkweise in der psychiatrischen Landschaft ein: der Recovery-Ansatz sollte von allen Einrichtungen und Kliniken verinnerlicht werden. Der erste Schritt in die richtige Richtung wäre eine finanziell auskömmliche Unterstützung der soziotherapeutischen Begleitung die von den Sozialpsychiatrischen Diensten erbracht wird. Es kann nicht sein, dass Krankenkassen sich hier ihrer finanziellen Verpflichtung entziehen.
Für den Vorstand des LVPEBW
Dr. Charlotte Klempt
Hier können Sie unsere Stellungnahme Soziotherapie_LVPEBW herunterladen und verwenden.